Geschichte der Osteopathie
Entdeckung der osteopathischen Behandlungsform
Die osteopathische Behandlungsweise ist inzwischen über 130 Jahre alt. 1874 wurde sie durch den amerikanischen Arzt Dr. Andrew Taylor Still (1828–1917) entwickelt.
Dr. Still kam in seinem Leben immer wieder in Situationen, in denen er seinen Patienten nur begrenzt helfen konnte. Als einige seiner engsten Familienangehörigen schwer krank wurden, und er auch ihnen mit seinen begrenzten Mitteln nicht helfen konnte, machte es sich Dr. Still zur Aufgabe, wirksamere Methoden zu finden, um Krankheiten und Schmerzen zu behandeln. So studierte er nochmal von Grund auf die Anatomie und Funktionen des menschlichen Körpers und dessen Zusammenhänge. Umso mehr er erforschte, desto offensichtlicher zeigte sich, dass viele Krankheiten und Leiden durch Fehlstellungen der Knochen und Wirbeln, und dem daraus entstehenden Ungleichgewicht der anatomischen Strukturen, entstehen. Fließen Blut, Lymphe oder Liquor nicht frei, wird der Körper unzureichend mit Nährstoffen versorgt, und Entzündungen und Irritationen können entstehen. Dr. Still erkannte immer deutlicher, dass wenn er Krankheiten und Schmerzen lindern wollte, es notwendig war, die entsprechenden Blockaden und ihren Ursprung zu finden und sie aufzulösen, so dass Blut, Lymphe und Liquor wieder frei fließen können.
Hintergrund der osteopathischen Behandlungsform
Bis heute bilden Dr. Stills Erkenntnisse das Fundament der Osteopathie:
- die grundlegende Bedeutung der Bewegung aller Strukturen im Körper
- die gegenseitige Abhängigkeit von Struktur und Funktion des Körpers
- die untrennbare Einheit der einzelnen Teile des Organismus
- die Fähigkeit zur Selbstheilung des Organismus
Die einzelnen Strukturen des Körpers sind ständig in Bewegung. Durch ihre Bewegungen führt jede Struktur ihre ganz eigene Funktion aus. Die Selbstheilungskräfte des Körpers können nur dann ihre Aufgabe erfüllen, wenn sich das Gewebe in alle Richtungen frei bewegen und die Körperflüssigkeiten ungehindert fließen können. Der Osteopath erspürt im Bindegewebe des Patienten Bewegungseinschränkungen und Blockaden. Er stellt mithilfe von Bewegungen fest, ob sich die Struktur und die Funktionen des Körpers behindern und so ihr Gleichgewicht gestört ist und erspürt die entsprechende Blockade und ihren Ursprung. Die Körperflüssigkeiten müssen frei fließen können, damit die Selbstheilungskräfte des Körpers arbeiten können.
Rasante Ausbreitung der Osteopathie bis nach Europa
1874 veröffentlichte Dr. Still seine neue Behandlungsform und nannte sie Osteopathie. Durch die positiven Ergebnisse, die durch die Osteopathie als neue Behandlungsmethode erzielt werden konnten, gewann sie schnell an Bekanntheit. Aufgrund des sich immer schneller und weiter ausbreitenden Interesses an der neuen Behandlungsmethode gründete Dr. Still im Jahr 1892 in Kirksville, Misouri, USA, die erste Schule für Osteopathie (heute das Kirksville College of Osteopathic Medicine). So konnten auch andere Ärzte in der osteopathischen Behandlungsmethode ausgebildet werden, und sie selbst anwenden. Das Interesse an der Ausbildung dehnte sich sehr schnell aus, so dass sich die neue Form der Behandlung in kürzester Zeit im ganzen Land ausbreitete. Die Osteopathie gewann mehr und mehr an Zuspruch. So wurden immer mehr Schulen zum Erlernen der osteopathischen Behandlungsmethode eröffnet. Und zunehmend wurden mehr Osteopathen ausgebildet. Die herkömmlichen Ärzte bekamen immer mehr Konkurrenz. Und so gab es Bestrebungen der Ärzteverbände die Osteopathie einzuschränken. In den 1960er Jahren wurde der Streit dann beigelegt und die Osteopathie wurde in den USA anerkannt. Bis heute praktizieren in den USA etwa 54.000 Osteopathen ihren eigenständigen Beruf. Sie führen den Titel D.o. Doctor of Osteopathie und sind Ärzten (Medical Doctors, MD) gleichgestellt. Die manuelle Diagnose und Behandlung des Patienten steht bei den meisten aber nicht mehr im Vordergrund. Ihre Tätigkeiten sind inzwischen andere. Sie verschreiben Medikamente, geben Spritzen und führen Operationen durch.
In Europa entwickelte sich die Osteopathie als rein manuelle Form der Medizin weiter, so wie sie einst von Dr. Still begründet wurde. Der Engländer John Martin Littlejohn, der selbst Schüler von Dr. Still war, brachte die Osteopathie 1917 nach Europa. Er gründete in London die British School of Osteopathy. In den 1950er Jahren breitete sich die Ostepathie dann weiter auf das europäische Festland aus. Die ersten Schulen für Osteopathie wurden in Deutschland Ende der 80er Jahre gegründet. In England wurde der Beruf des Osteopathen 1993 rechtlich anerkannt. Auch in Belgien und Frankreich wird die Osteopathie inzwischen zu den allgemein anerkannten Formen der Medizin gezählt. Mittlerweile wird die Osteopathie in nahezu allen europäischen Ländern praktiziert.
Weiterentwicklung der Osteopathie um weitere Behandlungsbereiche
Dr. Stills Osteopathie, wird heute als parietale Osteopathie bezeichnet. Da sich die Osteopathie weiterentwickelt hat, stellt sie heute neben der kraniosakralen Osteopathie und der viszeralen Ostepathie nur einen Teilbereich der Osteopathie dar. Die parietale Osteopathie beschäftigt sich vor allem mit dem Bewegungsapparat, mit den Muskeln, mit den Sehnen, den Bändern, dem Bindegewebe und den Knochen– und Gelenkstrukturen des menschlichen Körpers.
Dr. William Garner Sutherland, der auch selbst ein Schüler Dr. Stills war, entwickelte die sogenannte Kraniosakraltherapie. Er entdeckte, dass der Schädel des Menschen aufgrund seiner Nähte beweglich ist. Diese Beweglichkeit zeigt sich in einem primären Respirationsrhythmus, der in dem gesamten Bewegungsapparat des Menschen zu einer Innen– und Außenrotation führt. Die primäre Respirationsbewegung ist eine sehr feine, eigenständig pulsierende Bewegung, die am Schädel, am Steißbein und auch an anderen Strukturen des Körpers spürbar ist. Die Entdeckung von Dr. Sutherlands macht deutlich, wie ein lokales Gelenkstrauma, beispielsweise durch einen Unfall entstanden, den gesamten Bewegungsapparat eines Menschen negativ beeinflussen kann. So kann zum Beispiel ein Sturz auf das Steißbein, die Spannung der Schutzhülle des Gehirns und des Rückenmarks (Dura mater) erhöhen und chronische Nackenschmerzen, Hinterhauptschmerzen, Schwindelsymptomatik oder Tinnitus verursachen. Die kraniosakrale Methode wird inzwischen auch als eigenständige Technik unterrichtet und angewandt. Innerhalb dieses kraniosakralen Systems entwickelten sich viele weitere Techniken. Der amerikanische Arzt Dr. John Upledger ist der Urheber der Kraniosakraltherapie, so wie wir sie heute kennen.
Dr. Weischenk, Dr. Glenard, Dr. Stampfer, Jean-Pierre Barral, Pierre Merciere erweiterten in den 80er Jahren die Osteopathie um den sogenannten viszeralen Bereich. Sie erforschten die sogenannten Hohlorgane, den Dünndarm, den Dickdarm und den Magen und entdeckten dabei, dass jedes dieser Organe über eine spezifische Spannung verfügt, mit der sich die Organe gegenseitig stützen. Diese Spannung ist funktionell vergleichbar mit einer zweiten Wirbelsäule entlang der Körpervorderseite, die im Zusammenspiel mit der Wirbelsäule den Rumpf aufrichtet. Indem der Osteopath das Bauchfell gezielt mobilisiert, kann er Spannungen im Bereich des Rumpfes zwischen Brustkorb und Becken lösen und damit den Rumpf zurück ins Gleichgewicht bringen, wodurch entstandene Rückenschmerzen verschwinden können.
Ganzheitlicher Behandlungsansatz
Diese drei Strukturebenen, das parietale, das viszerale und das kraniosakrale System bilden die Säulen der Osteopathie. Für die Gesundheit des Menschen, ist es wichtig, dass jedes dieser drei Systeme in sich blockade– und dysbalancefrei wirken kann. Die Systeme beeinflussen sich auch gegenseitig, daher werden die Systeme bei der osteopathischen Behandlung nicht isoliert von den anderen beiden, sondern immer in ihrem Zusammenspiel betrachtet. Bei der Anamnese und der Intervention beschränkt sich der Osteopath daher auch nicht auf die symptomtragenden Körperregionen. Die schmerzende Körperregion wird immer in ihrer Relation zum Gesamtsystem Körper auf parietaler (Bindegewebe, Muskulatur und Gelenke), viszeraler (die inneren Organe) und kraniosakraler (Schädel und Kreuzbein) Strukturebene betrachtet. Der Mensch ist ein hochkomplexes und äußerst anpassungsfähiges System. Wenn es in einem seiner zahlreichen Subsystemen zu einer Funktionsstörung kommt, werden oft auch andere seiner Subsysteme oder sogar sein gesamtes System beeinträchtigt. So kann beispielsweise einem Bandscheibenvorfall oder einem Rückenschmerz eine Dysfunktion am Fußknochen, zugrunde liegen, die durch eine lang zurückliegende Fußverletzung entstanden ist. Indem der Körper die Dysbalance am Fuß durch einen Beckenschiefstand kompensiert, kann dieser eine Beinlängendifferenz und schließlich eine sekundäre Skoliose forcieren, wodurch der Rückenschmerz vorprogrammiert ist.
Die Osteopathie hat nicht nur in der Vergangenheit neue Räume und Möglichkeiten eröffnet und sie wird sich auch in Zukunft noch weiterentwickeln.